Auf nach Coyoacán, das Viertel hat koloniales Flair und
wenig Hungernde. Ich komme am weltberühmten „casa
azul“ vorbei, in dem Frida Kahlo bis zur ihrem Tod 1954
wohnte. Mit dem überdicken Diego Rivera, den sie als
Frosch mit weißlich-grüner Haut bezeichnete, mit
wabbeligen Hängebrüsten. Der sie liebte und nebenbei
eifrig mit anderen Frauen schlief. Was sie ihm mit
zahlreichen Liebhabern (und Liebhaberinnen)
heimzahlte. Sie heirateten zweimal und kamen nie
voneinander los. „Ich vermisse uns“, soll er gesagt
haben, als Antwort auf ihre Frage, warum er sie nicht
verlassen könne...
Ich lerne Phra Hans kennen, Schweizer, Mönch, knapp
60, wunderbar hilfsbereit und vom dem
leidenschaftlichen Willen bessessen, die Suche nach
Erlösung und Erleuchtung voranzutreiben. „Noch
hänge ich am Kreuz“, sagt er, und da müsse er
herunter. Denn noch fühle er sich von der Schwere des
Lebens gekreuzigt. Die er loswerden will, endlich. Dann,
so phantasiert er, begänne die Leichtigkeit.
Nach einer halben Stunde verlasse ich Paris. Nichts
könnte der Stadt gleichgültiger sein. Keine vierzig
Minuten sind vergangen und eine erste Depression
nagt. Jeffrey fällt mir ein. Ich merke, dass mein Hirn
nach Erinnerungen sucht, die mich nähren, wenn es
sein muss, peitschen: Richtung Osten, Richtung Berlin.
Habe ich Glück, dann treffen in meinem Kopf die
richtigen Bilder und Gedanken ein. Mit ihnen könnte ich
es schaffen.
Kleines Vorwort: „Reisen bildet“, meinte unser aller Übervater Goethe. Nicht unbedingt. Ich kenne Leute, die haben schon mehrmals den Planeten umkreist und kamen dennoch einfältig wie eh zurück. Wer keine Neugier einpackt, der bleibt besser zu Hause. Da fällt mir ein, dass ich die Scheuen ebenfalls getroffen habe, die lieber hierbleiben und nicht fortgehen. Und so manche waren voller Esprit, wissenshungrig, teilnehmend am Lauf der Welt. Man kann folglich überall geistreicher werden, selbst in der stillsten Kammer. Ich mag beides, vollkommen allein sein zwischen vier Wänden und weglaufen in die Welt – hin zu den anderen. Aber ja, ihnen verdanke ich meinen Beruf. Ohne sie hätte ich nichts zu melden
Die Sehnsucht ist ein vielschneidiges Schwert. Und die Sehnsucht nach Liebe wohl die gefährlichste.
Vor nicht langer Zeit erzählte mir ein Freund, dass er sich verliebt hatte. Auf einem Festival. Nach vier Tagen schworen sie sich gegenseitig Liebe. Dann mussten sie auseinander, jeder zurück in seine Stadt. Mit dem feurigen Versprechen, sich so bald, nein, so schnell wie möglich wiederzusehen.
Zwei Wochen später besuchte er sie, die neue Liebe. Und nach zwei Stunden, so ungefähr, krachte es. Zu verschieden ihr beider Blick auf die Welt, zu diametral ihre Pläne für die Zukunft, zu rechthaberisch sie, zu rechthaberisch er.
Ach, mit welchem Donner war er angereist. Und welch stille Heimfahrt.
Ich umarmte meinen Freund und tröstete ihn mit dem Hinweis, dass derlei Desaster uns allen passieren. Weil wir Menschlein immer derselben Versuchung unterliegen: nicht das zu sehen, was ist, sondern das, was wir sehen wollen.
In Canach kehre ich „Beim Manni“ ein, Wasser tanken und den nassen Körper ruhig stellen. Manni und drei Barflies sitzen im Dunklen vor dem Fernseher und zappen. Tour de Suisse, Wimbledon-Classics, eine Soap, Pokalspiele, Werbung für Fiat Punto, eine Soap, wieder Pokalspiele, wieder Wimbledon-Classics, eine dritte Soap, nochmal Tour de Suisse. Immer wieder leuchten die vier grün flimmernden Buchstaben „LIVE“ auf. Die drei wechseln sich beim Zappen ab, sie scheinen betrunken, jeder muss sich anstrengen, den Knopf zu finden. Ganz still und tot ist es in diesem Wirtshaus, nur vorne blinkt aus einem schwarzen Kasten „LIVE“. Das ist umwerfend komisch und unheimlich trostlos. „DEAD“ sollte blinken, das wäre auch trostlos, aber immer unheimlich wahr.
Es gibt Bahnhöfe, an denen mehr Dicke aussteigen als anderswo.
In Überlingen zum Beispiel. Es ist ein ergreifendes Bild, wenn die großen und kleinen Dicken aus dem ankommenden Zug klettern und sich Richtung Ausgang schleppen.
Boshafterweise reicht die Breite der Tür nicht für ein Pärchen Dicker. Jeder muss – einzeln und mutterseelenallein – hindurch. Ist er durch, steht er im lieblichen Überlingen.
Von Anfang an habe ich ihre Kühnheit bewundert: Männer und Frauen mit bis zu hundert Kilo Übergepäck reinster Fettschwarten kommen hier an, um sich bestrafen zu lassen. Ja, um Erlösung von ihren jahrzehntelangen Todsünden zu erbetteln.
Auf dem langen Weg zurück drückt mir ein Junge einen Wisch in die Hand.
Darauf steht die Adresse eines Detektivs, der sich darauf spezialisiert hat, flüchtige Verlobte oder Ehefrauen ausfindig zu machen. „¡No sufras más en silencio!“ – Leide nicht mehr im Stillen.
Auf der Visitenkarte sieht man einen Lasso schwingenden Reitersmann, der eine (flüchtige) Frau einfängt. Ich lächle, Jorge nickt lässig mit dem Kopf nach hinten.
Ich blicke auf: Ein Pornokino steht da. Verstanden, der Kleine arbeitet nebenbei als Zutreiber. Und tatsächlich, als ich eine Karte kaufe, bekommt er ein paar Pesos als Kommission.
Als ich zum ersten Mal in Paris lebte, hatte ich meine Wohnung in Deutschland vermietet. Ich war mir nicht sicher, ob mein Umzug nach Frankreich endgültig sein würde. Eines Morgens bestieg ich panikartig den Zug zurück nach M. Meine Untermieterin, so hatte ich nachts per Albtraum erfahren, war dabei, mein Hab und Gut zu ruinieren.
Ein Sommertag, eine laue Brise und eine
Temperatur, die nichts als Glück verheißt.
Das kommen wird – wenn auch über
Umwege.
Ich sitze auf der Terrasse eines Cafés,
das noch nicht offen hat. Eine Frau, wohl
eine Angestellte, kommt und fordert
barsch, mich zu entfernen. Sie müsse die
Kette aufsperren, die die Stühle
verbindet. Seltsam, denn das Schloss
befindet sich fünf Meter entfernt. Mein
Hinweis zählt nicht. So wenig wie der
Wunsch, einen Espresso zu bestellen. Die
Frau mit dem Schlüssel will ihre kleine
Macht nicht hergeben, verstanden, hier
wirtschaftet eine Unglückliche, die jetzt
um 8.53 Uhr ihr Unglück mit mir teilt.
Die toxische Luft vertreibt mich, ich
gehe über die Straße, warte stehend.
Ich weiß bis heute nicht, ob das, was ich getan habe, schrecklich war, ziemlich
schrecklich. Oder nicht, eher ein Akt, der sein musste. Der genau passte. Weil er
mich frei und leicht machte.
Vor Jahren habe ich eine Story mit dem Titel „DER DIEB / Eine Liebesgeschichte“
veröffentlicht. Ich beschreibe darin die unglaubliche Mühe, den endlosen Stress, die
Schweißströme, die Hungertage, die Geldhaufen, den kriminellen Eifer, die
detektivische Hartnäckigkeit und die Schmerzen am Körper. Sie alle waren der
Preis, den ich vierzig Jahre lang zahlte: um mir eine Bibliothek aufzubauen. Von
über achttausend Büchern.
Das ist eine Episode, für die ein Autor sich niederwerfen muss. Aus Dankbarkeit.
Sie passiert ihm alle hundert Jahre, und wenn sie passiert, dann ist sie grandios: Ich bestieg um 23 Uhr einen Bus (die Bahn streikte), wollte zum nächsten Ort einer Lesung. Auf dem Weg zu den hinteren Plätzen kam ich an einer Frau vorbei, die das Buch las, das ich vor Wochen veröffentlicht hatte.
Okay, gekrönt wurde ich nicht und ein richtiger Mann – einer, der trunken vor Freude seine Männlichkeit abfeuert – auch nicht. Und weit und breit keine, die mich begehrt und bejubelt hätte. Nur ein verbrauchtes Weib und ein Jüngling, der peinsam unbeholfen in sie hineinfuhr.
Ich bekomme ein Handtuch, ein Leintuch, zwei Bezüge für Kopfkissen und
Decke. In dem mir zugewiesenen Zimmer liegen schon zwei Männer, die Fenster
stehen weit offen und trotzdem schlägt mir ein heftiger Turnhallenduft entgegen.
Einer sitzt und stellt sich als Hellmut vor, der andere hat sich bereits unter seinem
Plumeau verkrochen. Im selben Augenblick erinnere ich mich an ein Gefängnis in
Amerika, wo ich an einem Weihnachtsvorabend mit einem zum Tode Verurteilten
ein langes Gespräch in seiner Zelle führte. Und Michael P. sprach davon, dass eine
der wichtigsten Handlungen bei Ankunft in einem Gefängnis darin bestehe, sich
einen Freund zuzulegen. Um „im Dschungel zu überleben“.
An einem solchen Ort kann man nur ein Unglück ausbrüten, und wir tun es. Auf
zum Strand, rein ins Auto und los Richtung Stella Maris. Dort soll es am schönsten
sein. Heute ist ein Feiertag und die restlichen vier Millionen Einwohner von Rio
denken dasselbe. So wälzt sich mehrspurig eine Blechlawine zur anderen Seite der
Halbinsel. Am Schluss werden es neunzig Minuten für 23 Kilometer sein.
Ich floh in ein Internat. Vorne in der neuen Klasse saß Anna, und ich saß ganz
hinten. Müsste ich einen der Gründe angeben, warum ich ein schlechter Schüler
war, ich würde auf die 18-Jährige deuten. Selbstverständlich trug sie Pullover, die
wie eine zweite Haut ihre Formen nachzeichneten. Millimetergenau. Um das Leid auf
Erden noch zu vergrößern. Wie alle Busenwunder wusste sie, dass sich etwas an
ihrem Körper befand, wovon eine ungeheure Faszination ausging.
Es gibt Peinlichkeiten, ganz und gar allein verschuldet, die man sich nicht verzeiht. Sie folglich nie vergisst. Sie sitzen im Kopf wie eine Kugel, die man nicht entfernen kann. Man nimmt sie mit ins Grab.
In der linken Hand hielt ich ein Buch, mit der rechten umklammerte ich die Querstange über mir. Ich las eine schmale Gedichtsammlung von Robert Bly, der berühmt ist und den keiner in Amerika kennt. Er soll namentlich erwähnt werden, denn auf bizarre Weise ist er verantwortlich für das, was nun kommt. Und es kommt rasend schnell...
Um halb neun kommt Danielle Marie Gram zum Frühstück. Ein amerikanisches Wunderkind. Schon ihr zuzuhören fordert Nerven. Jeden, den sie trifft, beschenkt sie. Entweder mit ihrer Großzügigkeit oder, wie jetzt, mit ihrer Geschichte. Hier stehen, aus Platzmangel, nur Auszüge aus der fulminanten Biografie einer so außergewöhnlichen, so jungen Frau.
Stiller, klarer Morgen, Paris s’éveille, Paris erwacht. Zwei Strassenkehrer öffnen
einen Gully, Wasser spritzt, die Sonne leuchtet auf ihre schwarze Haut.
Nach dreizehn Minuten lege ich den ersten Pump an. Ich mag den Ausdruck, er
steht bei Henry Miller, der zehn Jahre in Paris gelebt hat und bisweilen die Hand
ausstrecken musste, um über den Tag zu kommen. Ich muss umgehend lernen,
mich zu überwinden. Und die Scham auszuhalten, das Ausgeliefertsein, das ranzige
Mitleid. Als Anfänger betrete ich die erste Bäckerei und sage „Guten Morgen“ und „Haben
Sie etwas altes Brot für mich, bitte?“
Ich lese einen Bericht über eine 82-jährige Greisin, die ab sechs Uhr morgens durch ihr Stadtviertel zieht und armen Schluckern etwas zum Essen bringt, tagaus, jahrein. Ich werde irgendwann begreifen, dass die beiden Meldungen viel von diesem Land berichten, ja sein Herz beschreiben: das voll mörderischen Zorn ist, und grausam und kalt sein kann. Und so verwirrend oft großzügig ist, mitfühlend, fürsorglich. Ich beschließe, die Greisin zu besuchen..