Eines der bekanntesten Geschwistermärchen neben Hänsel und Gretel, das in frühen Fassungen genau den Titel des Märchens dieser Folge hatte. Jedoch ist 'Brüderchen und Schwesterchen' kein ganz so rundes Märchen wie Hänsel und Gretel, obwohl ähnliche Elemente vorkommen: eine böse Stiefmutter, eine Hexe, eine Mangelsituation zu Beginn und ein großer Überfluss am Ende. Im Mittelteil gibt es aus heutiger Sicht aber stilistische Schwächen: da hat die Hexe ihre Tochter als falsche Königin ausgegeben. Doch was weiter? Missbraucht sie diese Macht? Täuscht sie den König erfolgreich oder durchschaut er die List? All dies wird nicht geschildert. Stattdessen liegt der Fokus dann auf der Wiedergängerin der 'rechten Königin', die von Hexe und einäugigem Hexenbalg getötet wurde und schließlich - durch göttliche Intervention? - wieder zum Leben erweckt wird, um mit dem Bruder ein glückliches Leben fristen zu können.
Das Lumpengesindel ist ein typischer Tierschwank, das eine klare Moral am Ende enthält und die Zuhörer gut unterhält. Dieser situative Dick-und-Doof-Humor kommt nicht nur bei Kindern gut an.
Ein wenig bekanntes, verwinkeltes Märchen, das sich heute liest, wie eine Kompilation bekannter Märchenmotive. Da schwingt etwas Schneewittchen mit und etwas von den sieben Raben bzw. sechs Schwänen.
Ein kurzes Märchen über einen wunderlichen Spielmann, den wir heute vor allem als bösartig und tierfeindlich lesen.
Held dieses Märchens ist ein dummer Bauer, der am Ende doch noch Glück hat.
Eine weitere Figur im Text ist ein Jude, dessen Darstellung mit antisemitischen Klischees (hier vor allem Raffgier und Falschheit) behaftet ist. Der Jude wird dafür letztlich heftig bestraft, der dumme Bauer, der noch dazu lügt, hingegen sogar belohnt. Diese Darstellung ist historisch bedingt und ich distanziere mich ausdrücklich von ihr. Klischees und Vorurteile wie diese, die sich in einen Text einschreiben, sind für uns wichtige Zeugnisse einer früheren Epoche und sie gehören genauso zu Grimms Märchen, wie die bekannteren und liebgewonnenen Texte. Wer Märchen wie dieses seinen Kindern vorliest, sollte den Anlass nutzen, um über Vorurteile und Antisemitismus ins Gespräch zu kommen.
Eine unwahrscheinliche Geschichte, in der drei Raben eine nicht unwichtige Rolle spielen und Kinder zeitweise geköpft werden ... Am Ende bleiben aber viele Fragen offen: Wer hat da eigentlich drei Attentate auf das Königspaar verübt? Und warum wundert sich niemand darüber? Alles egal: Hauptsache, man ist treu bis in den Tod!
Ein uraltes Tiermärchen, das aus einer Fabel hervorgegangen ist, die schon in der Antike erzählt wurde. Damals gab es nur ein Geißlein, das sich nicht an den Rat der Mutter gehalten und den Wolf eingelassen hat. Zur Strafe für den mangelnden Gehorsam der Mutter gegenüber verbleibt das arme Tier auch im Wanst des Wolfs ... Nicht so bei den Grimms, wo das Gute obsiegt!
In der Frühfassung unter dem Titel 'Gut Kegel und Kartenspiel' ist dieses Schwankmärchen eine Parodie auf das christliche Motiv der Mutproben in Qualnächten. Dabei harren Ritter zur Buße nachts aus, auch wenn sie von Wesen des Jenseits belangt werden. In diesem Märchen werden diese Elemente ins Makabre gesteigert.
Ein wenig bekanntes Märchen mit stark religiöser Färbung über Sünde und Vergebung. Kein sehr typisches Märchen im Sinne eines Prototyps, aber dennoch mit einigen Merkmalen versehen, die wir aus anderen Texten kennen: Die dreimalige Wiederholung z. B.
Ein Tiermärchen, das - z. T. mit anderem Personal (etwa Wolf/Fuchs) - weit verbreitet ist und eher im Sinne einer Fabel oder eines Schwanks funktioniert, denn als prototypisches Märchen.
'Der Froschkönig' steht in den Kinder- und Hausmärchen an erster Stelle und gehört nicht zuletzt deswegen zu den bekanntesten Märchen überhaupt. Auf den Kuss der Prinzessin, die den Frosch verwandelt, wartet man in dieser Fassung aus letzter Hand aber vergebens ... dafür hat ein Diener einen seltsamen Auftritt: Der eiserne Heinrich, der hier fast wie ein Fremdkörper wirkt, sich aber über die Entstehungsgeschichte des Textes mit herausentwickelt hat, wenngleich er in vielen späteren Fassungen wegrationalisiert wurde.
Wie definieren Literaturwissenschaftler eigentlich Märchen?
Diese Frage soll geklärt werden, bevor die Lesung der 200 Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm auf diesem Kanal beginnt.
Die Lyrikschule hat noch nicht dicht gemacht!
In der Zukunft sollen wieder neue Folgen erscheinen, allerdings nicht mehr ausschließlich zu lyrischen Texten!
Diese Folge ist dem Pride Month entsprechend queerer Lyrik gewidmet und zeichnet anhand ausgewählter Sonette August von Platens einige typische homoerotische Denk- und Gefühlsmuster nach.
August von Platen: Die Sonette - Männerschwarm-Verlag
https://www.maennerschwarm.de/buch/die-sonette/
Weihnachten ist die Zeit der Besinnung, die Zeit der Kinder, auch eine melancholische Zeit und nicht zuletzt eine Zeit der absurden Rituale und nervenaufreibenden Familienfeiern. Anhand von drei Gedichten sollen Schlaglichter auf diese Zeit geworfen werden, wenngleich es sich nicht um die ganz typischen Weihnachtsgedichte 'unterm Tannenbaum' handelt.
Rainer Maria Rilke
Das Karussell
Jardin du Luxembourg
Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.
Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.
Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.
Und dann und wann ein weißer Elefant.
Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgendwohin, herüber –.
Und dann und wann ein weißer Elefant.
Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil –.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel ...
Theodor Storm
Weihnachtslied
Vom Himmel bis in die tiefsten Klüfte
ein milder Stern herniederlacht;
vom Tannenwalde steigen Düfte
und kerzenhelle wird die Nacht.
Mir ist das Herz so froh erschrocken,
das ist die liebe Weihnachtszeit!
Ich höre fern her Kirchenglocken
mich lieblich heimatlich verlocken
in märchenstille Herrlichkeit.
Ein frommer Zauber hält mich wieder,
anbetend, staunend muß ich stehn;
es sinkt auf meine Augenlider
ein goldner Kindertraum hernieder, ich fühl's, ein Wunder ist geschehn.
Loriot
Advent
Es blaut die Nacht. Die Sternlein blinken.
Schneeflöcklein leis’ niedersinken.
Auf Edeltännleins grünem Wipfel
häuft sich ein kleiner weißer Zipfel.
Und dort, vom Fenster her durchbricht
den dunklen Tann' ein warmes Licht.
Im Forsthaus kniet bei Kerzenschimmer
die Försterin im Herrenzimmer.
In dieser wunderschönen Nacht
hat sie den Förster umgebracht.
Er war ihr bei des Heimes Pflege
seit langer Zeit schon sehr im Wege.
So kam sie mit sich überein:
Am Niklasabend soll es sein.
Und als das Rehlein ging zur Ruh',
das Häslein tat die Augen zu,
erlegte sie - direkt von vor'n
- den Gatten über Kimm' und Korn.
Vom Knall geweckt rümpft nur der Hase
zwei-, drei-, viermal die Schnuppernase.
Und ruhet weiter süß im Dunkeln,
Derweil die Sternlein traulich funkeln.
Und in der guten Stube drinnen,
da läuft des Försters Blut von hinnen.
Nun muß die Försterin sich eilen,
den Gatten sauber zu zerteilen.
Schnell hat sie ihn bis auf die Knochen
nach Waidmanns Sitte aufgebrochen.
Voll Sorgfalt legt sie Glied auf Glied
- was der Gemahl bisher vermied -
Behält ein Teil Filet zurück,
als festtägliches Bratenstück.
Und packt zum Schluss - es geht auf vier -
die Reste in Geschenkpapier.
Da dröhnt's von fern wie Silberschellen.
Im Dorfe hört man Hunde bellen.
Wer ist's, der in so tiefer Nacht
im Schnee noch seine Runde macht?
Knecht Ruprecht kommt mit gold’nem Schlitten
auf einem Hirsch herangeritten!
»He, gute Frau, habt ihr noch Sachen,
die armen Menschen Freude machen?«
Des Försters Haus ist tief verschneit,
doch seine Frau steht schon bereit:
»Die sechs Pakete, heil'ger Mann,
's ist alles, was ich geben kann!«
Die Silberschellen klingen leise.
Knecht Ruprecht macht sich auf die Reise.
Im Försterhaus die Kerze brennt.
Ein Sternlein blinkt:
Es ist Advent.
In der heutigen Folge soll erneut ein pazifistisches Gedicht im Mittelpunkt stehen. Es ist nicht das erste auf diesem Kanal, was zeigt, wie wichtig mir das Thema ist. Wichtig einerseits und andererseits erschütternd, wie wenig der Mensch dazuzulernen scheint, wie blindwütig er sich anschickt, munter die alten Fehler zu wiederholen und zu wiederholen und zu wiederholen. Das tut aber der Größe dieses Textes, der keinesfalls blind, sondern geradezu hellsichtig zu nennen wäre, keinen Abbruch!
Krieg dem Kriege
Sie lagen vier Jahre im
Schützengraben.
Zeit, große Zeit!
Sie froren und waren verlaust und haben
daheim eine Frau und zwei kleine Knaben,
weit, weit –!
Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt.
Und keiner, der aufzubegehren wagt.
Monat um Monat, Jahr um Jahr …
Und wenn mal einer auf Urlaub war,
sah er zu Haus die dicken Bäuche.
Und es fraßen dort um sich wie eine Seuche
der Tanz, die Gier, das Schiebergeschäft.
Und die Horde alldeutscher Skribenten kläfft:
„Krieg! Krieg!
Großer Sieg!
Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!“
Und es starben die andern, die andern, die andern …
Sie sahen die Kameraden fallen.
Das war das Schicksal bei fast allen:
Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod.
Ein kleiner Fleck, schmutzigrot –
und man trug sie fort und scharrte sie ein.
Wer wird wohl der nächste sein?
Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen.
Werden die Menschen es niemals lernen?
Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt?
Wer ist das, der da oben thront,
von oben bis unten bespickt mit Orden,
und nur immer befiehlt: Morden! Morden! –
Blut und zermalmte Knochen und Dreck …
Und dann hieß es plötzlich, das Schiff sei leck.
Der Kapitän hat den Abschied genommen
und ist etwas plötzlich von dannen geschwommen.
Ratlos stehen die Feldgrauen da.
Für wen das alles? Pro patria?
Brüder! Brüder! Schließt die Reihn!
Brüder! das darf nicht wieder sein!
Geben sie uns den Vernichtungsfrieden,
ist das gleiche Los beschieden
unsern Söhnen und euern Enkeln.
Sollen die wieder blutrot besprenkeln
die Ackergräben, das grüne Gras?
Brüder! Pfeift den Burschen was!
Es darf und soll so nicht weitergehn.
Wir haben alle, alle gesehn,
wohin ein solcher Wahnsinn führt –
Das Feuer brannte, das sie geschürt.
Löscht es aus! Die Imperialisten,
die da drüben bei jenen nisten,
schenken uns wieder Nationalisten.
Und nach abermals zwanzig Jahren
kommen neue Kanonen gefahren. –
Das wäre kein Friede.
Das wäre Wahn.
Der alte Tanz auf dem alten Vulkan.
Du sollst nicht töten! hat einer gesagt.
Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.
Will das niemals anders werden?
Krieg dem Kriege!
Und Friede auf Erden.
Im strengen Sinne ist der Text natürlich kein Gedicht, auch wenn er sich durch eine ausgeprägte Sprachrhythmik und hohe Bildlichkeit auszeichet. Ich möchte dieses Manifest des Pazifismus aber gerne mit allen Hörer:innen teilen und hoffe, dass der Text bei allen einen so bleibenden Eindruck hinterlässt, wie bei mir. In der Folge bleibt es bei der Rezitation - ohne jeden Kommentar, denn der ist überflüssig!
Am Beispiel von Johannes R. Bechers Gedicht "Ballade von den dreien" erkläre ich, wie man vorgeht, um ein Gedicht vorzutragen.
Ballade von den dreien
Der Offizier rief: „Grabt den Juden ein!"
Der Russe aber sagte trotzig: „Nein!"
Da stellten sie den in das Grab hinein.
Der Jude aber blickte trotzig: „Nein!"
Der Offizier rief: „Grabt die beiden ein!"
Ein Deutscher trat hervor und sagte: „Nein!"
Der Offizier rief: „Stellt ihn zu den zwein!
Grabt ihn mit ein! Das will ein Deutscher sein!"
Und Deutsche gruben auch den Deutschen ein...
In der zweiten Folge zu Rainald Grebe geht es schwerpunktmäßig um seinen genresprengenden Roman 'Global Fish' von 2006. Hier gibt es keine klare Abgrenzung von Epik, Lyrik oder Dramatik - in den Roman sind immer wieder kleine Gedichte und Lieder, die der Autor auch vertont hat, eingebaut.
Ein zentraler Reflexionstext des Romans ist das folgende Gedicht:
An Deck machte ich mir Gedanken
Führte Selbstgespräche zum Thema: Worum geht es.
Es geht doch darum, sagte ich laut,
wenn ich mich unbeobachtet fühlte,
darum, wirklich was zu erleben.
Darum geht es.
Nicht nur oberflächlich, so und so, hier und da,
sondern wirklich zu erleben,
was unter die Haut geht wie ein Tattoo.
Ich will mit Frauen aus fünf Kontinenten schlafen,
alle Drogen ausprobieren, die es gibt,
dann sehr gesund leben,
enthaltsam wie ein Heiliger,
dass ich alt werden kann
wie Goethe oder Nelson Mandela.
Lernen, schaffen, hinterlassen,
Familie, Kinder, Enkel,
Kunst, Wissenschaft und Leben,
den ganzen Globus kennen und den Mond.
Wirklich gebildet will ich werden,
ein Bild von einem Menschen,
mein Leben, sagte ich laut,
wird ein langer Entwicklungsroman
und auf dem Buchrücken steht:
Dieser Junge hat sich sehr gut entwickelt.
Weitere Lieder werden in der Folge angespielt. Ich verweise aber gerne erneut auf den reichen Fundus an weiteren Aufnahmen, die auf Youtube zu finden sind.